geboren worden zu sein" (Frisch 1992: 381), ist der tiefste und meiner
Meinung nach der eigentliche Grund, weswegen der Heimkehrer sich weigert
seinen frueheren Namen wieder anzunehmen. Denn damit geriet er unweigerlich
wieder in sein frueheres Leben hinein, ubernaehme eine Rolle, in die er
nicht mehr passt. Niemand ist naemlich bereit in ihm einen neuen,
gewandelten Menschen zu sehen, jeder sucht in ihm nur die Zuege des Anatol
Stiller, die er von frueher her kennt. Darum heisst es schon auf S. 49:
"Ich bin nicht ihr Stiller [...] Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir
meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt
keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht
in eine Rolle". (Frisch 1992: 49)
" Es gibt keine Flucht" - dieser Satz taucht immer wieder auf und
diese Einsicht ist eine der Grundlagen des Romans ueberhaupt, denn weil
Stiller erfahren hat, dass Flucht vor sich selbst nicht nuetzt, um mit sich
selbst fertig zu werden, kehrt er in die Schweiz zurueck. Aber mit der
Rueckkehr in die Schweiz ist die Flucht vor sich selbst noch nicht
aufgehoben, denn der Gefangene weigert sich die Identitaet mit dem
Verschollenen zu gestehen.
Max Frisch hat in seinem Roman eine innere, psychische Situation,
naemlich die Flucht vor sich selbst als eine aeusserliche Situation
dargestellt. Der Roman ist eine Darstellung eines Ich-Zerfalls und zugleich
der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung durch Selbstsuche. Gleich
mit dem Beginn des Romans faengt diese Selbstsuche an und in dieser
Ausseinandersetzung mit sich selbst liegt die psychoanalytische Faerbung
des Romans.
"Was Frisch hier darstellt, ist tatsaechlich eine Art Selbstanalyse
als Reaktion auf das Scheitern der Flucht vor sich selbst, und diese
Selbstanalyse hat sehr viel Aehnlichkeit mit der psychoanalytische
Therapie" (Wesstein 1967: 256)
3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman.
Versuch einer vergleichenden Analyse
Das Zusammenspiel der Realitaeten kann aus einer anderen Sicht
untersucht werden, die aber von dem Begriff der Mehrschichtigkeit in
"Stiller" nicht wegzudenken ist. Das ist die Opposition 'die Schweiz-
Amerika', wo Amerika aus Stillers Perspektive fuer die Welt der Flucht
steht und die Schweiz der Ort seines Versagens ist.
Bei der kritischen Darstellung der Schweiz muss zwischen der Stillers
und der Whites unterschieden werden, das heisst zwischen den kritischen
Aeusserungen Stillers vor seiner Flucht nach Amerika, die von anderen
Personen berichtet werden, und denen, die der Ich- Erzaehler in der
Gegenwart selbst ausspricht.
Im Rahmen der vorliegenden Analyse ist gerade Whites Position
gegenueber der Schweiz von Bedeutung, insbesondere in ihrer Opposition zu
Amerika, weil sie zu einem Instrument des Zusammenspieles zwischen Fakt und
Fiktion wird.
Die Gesellschaftskritik Mr. Whites ist durch die Form bestimmt. Der
Ich- Erzaehler tritt als Amerikaner auf, er schildert die Welt, die er
sieht, quasi von aussen, als Fremder, wenn er schreibt: " Zuerich koennte
ein reizendes Staedchen sein" (Frisch 1992: 77) (und darin liegt schon eine
gewisse Kritik), wenn er Zuericher Grossmuenster "eine Art kleine
Kathedrale" nennt, so glaubt man zunaechst, White sei wirklich ein Fremder.
Allmaehlich aber gewinnt seine Kritik an der Schweiz eine Schaerfe, wie sie
ein Fremder wohl nicht aufbraechte. Der Verteitiger nimmt es auch als
Beweis dafuer, dass sein Mandant Schweizer und somit der gesuchte Stiller
ist.
" Sie wollen mir nur vormachen, dass Sie kein Schweizer sind und somit
nicht Stiller", sagt er, " aber Sie werden mir nichts vormachen; ihr Hass
gegen die Schweiz beweisst mir noch lange nicht, dass Sie kein Schweizer
sind. Im Gegenteil!" ruft er, da ich lache, " gerade damit verraten Sie
sich." (Frisch 1992: 196)
Der Tagebuchschreiber betont jedoch, dass seine Kritik eigentlich
nicht der Schweiz gelte: " Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die
Verlogenheit" (Frisch 1992: 196). Diese Erscheinung ist keinesfalls auf die
Schweiz beschraenkt, entzuendet aber stets die Kritik an den Schweizer
Verhaeltnissen. Sie scheinen alles zusammenzufassen, was Stiller an der
buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt kritiesiert. Das haengt wohl mit der
Funktion zusammen, die die Schweiz fuer ihn und seine Identitaetsfindung
hat. So meint Jurgensen: " Stillers Gesellschaftskritik ist ein
wesentlicher Bestandteil seiner Selbstanalyse" (Juergensen 1972: 80)
1. Die raeumliche Perspektive
Der Schweiz, deren raeumliche und geistige Enge Stiller ein Aergernis
ist, wird im Roman ein Gegenbild gegenuebergestellt: Amerika, Sinnbild der
Weite, des urspruenglichen, nicht genormten Lebens.
In folgenden Zitaten kommt diese Gegenueberstellung durch die Wortwahl
zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz Epitheta wie "klein, angemessen,
genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich,
bluehend" gewaehlt werden:
"Meine Zelle- ich habe sie eben mit meinem Schuh gemessen, der nicht
ganz dreissig Zentimeter hat - ist klein wie alles in diesem Land, sauber,
so dass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklommend gerade dadurch,
dass alles recht, angemessen und genuegend ist." (Frisch 1992: 15-16)
"Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die
Wueste. Beispielsweise die Wueste von Chihuahua. Ich sehe ihre groesse Oede
von bluehender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blueht, Farben des
gluehenden Mittags, Farben der Daemmerung, Farben der unsaeglichen Nacht."
(Frisch 1992: 26)
Stiller versucht dem engen und konventionellen Leben in Europa zu
entfliehen und auf dem neuen Kontinent ein freieres Leben zu beginnen.
Allerdings soll diese Deutung eingeschraenkt werden: Sie gilt im "Stiller"
vor allem fuer Mexiko. Was Stiller fasziniert, ist nicht nur die Weite, die
metaphorisch fuer seelische Freiheit steht, sondern auch die
Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen in Mexiko dem Leben und Tod
gegenueberstehen. Der Erinnerung an den Totentag in Mexiko wird kurz darauf
der Besuch auf dem Friedhof in Zuerich am Grabe der Mutter
gegenuebergestellt: hier die wortlose Hilfslosichkeit zweier Protestanten
gegenueber dem Phaenomen des Todes, dort der selbstverstaendliche Einklang
von Leben und Tod.
" Ich muss […] an den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah,
an die indianischen Muetter, wie sie auf den Graebern kauern die ganze
Nacht, alle in ihren festlichen Trachten, sorgsam gekaemmt wie fuer die
Hochzeit, und scheinbar geschieht ueberhaupt nichts, der Friedhof ist eine
Terrasse ueber dem schwarzen See[..], ein Friedhof ohne einen einzigen
Grabstein oder sonst ein Zeichen […], dazu die Teller mit allerlei Speisen,
die mit einem sauberen Tuechlein bedeckt ist, vor allem aber das sonderbare
Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt worden ist, ein Gestell aus
Bambus, daran das Gebaeck und Blumen, die Fruechte, das bunte Zuckerzeug."
(Frisch 1992: 319)
"Das Grab der Mutter: - wie Graeber hierzulande eben sind, mit
gestelltem Granit saeuberlich eingefasst, alle etwas zu kurz, so, dass man
den Schrecken hat, den Toten auf den Fuessen zu stehen, dazwischen
Kieswege, immergruen am Rand, in der Mitte des Grabes eine toenerne Vase,
ein paar welke Astern drin, hintern dem Stein eine rosige Blechbueckse, um
die Blumen zu begiessen." (Frisch 1992: 324)
Sehr viel kritischer aeussert sich der Tagebuchschreiber ueber New
York. Waehrend der Staatsanwalt von der Rainbow- Bar schwaermt, erzaehlt er
ihm von der Bowery, einem "Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht,
Gefilde der Verlorenen" (Frisch 1992: 176), wo er in einem betrunkenen
Greis seinen Stiefvater zu erkennen glaubt. Hier zeigt sich, dass es
Stiller nicht um die Gesellschaftskritik geht, sondern dass er ueberall
seine persoehnliche Problematik sieht. Dies geht auch vor allem aus der
Schilderung seiner ersten Eindruecke nach der Landung hervor, wo es heisst:
" Ich sah die Praerie, die Schlaechtereien von Chikago, die Mormonen,
die Indianer, die groesste Kupfergrube der Welt […]." Und doch verfolgt ihn
der Gedanke an seine " grazile Balletteuse". (Frisch 1992: 338)
Diese Stelle im Roman zeugt davon, dass der Ankoemmling, der von
seinem frueheren Leben flieht, seine Identitaet leugnet, trotzdem seine
Vergangenheit mit seiner Gegenwart vergleicht, mit anderen Worten sie nicht
loswird.
2. Die zeitliche Perspektive
Wie gesagt, kann der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht
abschuetteln. Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo
Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch
entstehen Brechungen, sodass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln und
erhellen.
Keine chronologisch erzaehlte Handlung ist im Roman vorhanden, sondern
ein kompliziertes Geflecht mehrerer Zeitebenen. Die Vergangenheit wird in
Form von Rueckerinnerungen und Berichten in die Gegenwart hereingeholt und
mit ihr konfrontiert.
"Ich soll mein Leben erzaehlen, und wenn ich versuche, mich
verstaendlich zu machen, sagen sie: Hirngespinste! […]. Mein Verteidiger
hoert zu, solange ich von meinem Haus in Oakland rede, von Negern und
anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren Geschichte komme […] putzt mein
Vertedtiger sich die Fingernaegel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen
mit irgendeiner Lappalie: "Sie hatten ein Haus in Oakland?" […] Es war vier
Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteitiger notiert, das ist es,
was er wissen will!) und eigentlich, ganz genau zu sein, war es eher eine
Schindelhuette." (Frisch 1992: 60-61)
In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass die Zeit zum Objekt
und zugleich zum Instrument im Zusammenspiel der Realitaeten wird.
Wenn wir die Zeitstruktur des Romans unter die Luppe nehmen, ist auch
in erster Linie zwischen dem schweizerischen und amerikanischen/
mexikanischen Text zu unterscheiden. Fuer das, was aus Amerika berichtet
wird, ist keine genaue Datierung festzulegen, mit Ausnahme des
Selbstmordversuchs, den Stiller vor seiner Rueckkehr unternimmt. White hat
also keine Vergangenheit, die sich erzaehlen liesse, er gibt nur einzelne
Impressionen wieder, einzelne, nicht chronologisch aufeinander folgende
Erinnerungen, die sich meist auf den Aufenthalt in Mexiko beziehen. Diese
Mexiko-Erinnerungen sind haeufig im Praesens geschrieben, ein Zeichen fur
eine Art Zeitlosigkeit des dortigen Lebens.
Im Unterschied dazu ist fuer den 'schweizerischen Text' eine andere
Zeitform, das Praeteritum, charakteristisch.
"Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis inbegriffen und
alles, versteht sich, bei Kerzenlicht." (Frisch 1992: 298)
"Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genauso ist es,
malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es Augenblicke,
wo man sich ploetzlich fuerchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder
sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat, auf dem Faeulnis alter Fruechte.
Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie noch heute: Bohnen und Erbsen,
Nuesse, Fruechte, die ich zum erstenmal sehe. " (Frisch 1992; 29)
Es sind die Impressionen eines rollenlosen, entindividualisierten
Ichs, (Lusser- Mertelsmann 1976: 62) das keine Vergangenheit und keine
Zukunft kennt. Diese gewissermassen zeitlose Existenzweise wird auch vom
Tagebuch-Ich uebernommen, das entgegen dem ueblichen Gebrauch seine
Eintragungen ohne Datum vornimmt. Wir koennen zwar den Fruehherbst 1952 als
Datum der Rueckkehr festlegen, erfahren aber nicht genau, wie lange die
Untersuchungshaft dauert.
Die Gegenwartsebene- die Monate der Untersuchungshaft, der
schweizerische Text - wird nun der durch Rueckwendung hereingeholten
Vergangenheitsebene gegenuebergestellt. Das 2. Heft holt dabei zeitlich am
weitesten aus, es beginnt mit dem Kennenlernen Stillers und Julikas kurz
nach seiner Ruckkehr aus Spanien und erzaehlt von da an die Geschichte
ihrer Ehe, jedoch nicht einfach chronologisch, sondern nach einer kurzen
Schilderung des Anfangs und der Probleme dieser Ehe springt der Bericht
sofort auf das Krisenjahr 1945 (das war vor etwa sieben Jahren - (Frisch
1992: 94). Dieses wird nun von Julikas Standpunkt aus ausfuehrlich
geschildert, dazwischen aber heisst es: Hier waere etwas nachzutragen
(Frisch 1992: 139), und nun erst erfahren wir Stillers Spanienerlebnis aus
dem Jahre 1935. Dies ist - mit Ausnahme einiger Kindheitserlebnisse, die
aber nicht in unmittelbarer Beziehung zur Handlung stehen - der frueheste
im Roman dargestellte Zeitpunkt. Die Gegenwart macht sich also immer wieder
bemerkbar, auch in den Rueckwendungen.
Die beiden anderen der Vergangenheit gewidmeten Hefte - 4 und 6 -haben
zwar eine einfachere Zeitstruktur, weil sie fast ausschliesslich vom Jahr
1945 handeln. Aber auch hier ist die Erzaehlung immer wieder durch
Einschuebe in der Gegenwart unterbrochen, nicht nur durch die bereits
erwaehnten Bemerkungen und Kommentare des Tagebuchschreibers, sondern auch
durch Ereignisse und Reflexionen in der Gegenwart. So heisst es im 4. Heft
ploetzlich: "Sibylle (die Frau meines Staatsanwalts) hat gestern kurz nach
Mitternacht ein beinahe siebenpfundiges Maedchen geboren" (Frisch 1992:
218), oder im 6. Heft: "Manner sind komisch!" findet Sibylle noch heute""
(Frisch 1992: 284), und nach dem Bericht, dass Sibylle sich in Le Havre
eingeschifft habe: "Mein Freund, der Staatsanwalt, meldet, dass die
Schlussverhandlung (mit Urteilsspruch) auf Dienstag in acht Tagen angesetzt
ist " (Frisch 1992: 308). Die Gegenwart bleibt also im Bewusstsein des
Lesers immer vorhanden. Karlheinz Braun kommentiert diesen Sachverhalt
folgendermassen: "Es ist deutlich, dass in diesen Heften die Vergangenheit
dominiert, doch Frisch macht von der Moeglichkeit, die momentane Gegenwart
aufleuchten zu lassen, so reichlich Gebrauch, dass sich hier Vergangenheit
und Gegenwart eigentuemlich vermischen" (Braun 1959: 78)
Das 7. Heft nimmt sowohl in der Erzaehlhaltung als auch in der
zeitlichen Struktur eine Sonderstellung ein. Es enthaelt zunaechst, ebenso
wie die anderen Hefte mit ungerader Numerierung, Erlebnisse im Gefaengnis,
also in der Gegenwartsebene: Besuch beim Zahnarzt, Gespraech mit dem
Staatsanwalt, Gang auf den Friedhof und Besuch von Freunden, gemischt mit
Reflexionen und Erinnerungen an Mexiko, die uebrigens wieder im zeitlosen
Praesens geschrieben sind. Danach folgt die Rueckwendung auf Stillers
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