Dann spricht er jedoch das erste Mal von Stiller in der Ich- Form und
gibt schliesslich zu, Stiller zu sein.
"Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (fuer sie)
identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen
verschollenen Anatol Ludwig Stiller[…]" (Frisch 1992: 381)
"Wielfried Stiller, mein Bruder, habe sich bereits erklaert, den
Betrag von Franken 9 361. 05 zu uebernehmen." (Frisch 1992: 383)
Max Frisch sagte so ueber sich selbst: Er sei ein defensiver, ein
reagierender Schriftsteller. Er erfindet nicht Geschichten, um die Welt zu
veraendern, sondern stellt die Welt dar, wie er sie erfahren hat, ohne den
moralischen Anspruch zu erheben, Loesungen und Vorschlaege zum Bessermachen
aufzuzeigen. Im Grunde sei er ein hilfloser Schriftsteller, der schreibt um
zu bestehen, nicht um zu belehren und waere vielleicht am gluecklichsten,
wuerde ihm ein Aufweichen seiner Problemwelt gelingen. Aus seiner Haltung
als Schriftsteller resultiert auch die Erzaehlhaltung in seinen Romanen.
.
3. Strukturelle Besonderheiten des Romans "Stiller" und die Haltung
des Erzaehlers im Roman
Literatur entsteht immer in einer "Partnerbeziehung" zwischen Autor
und Leser, weshalb der jeweilige Text in jedem Leser neu entstehen soll.
Frisch gibt keine fertigen Antworten und macht deshalb auf das
Problem des Offensichtlichen aufmerksam: "...alles sagen bedeutet ein
Entfernen". Das Offene in der Reproduzierbarkeit beim Konsumieren eines
Textes muЯ gewaehrleistet bleiben, sonst bleibt die Gefahr, daЯ man das
"Geheimnis zerschlaegt". Die schriftstellerische Form sollte deshalb eine
"stofflose Oberflaeche" bleiben, die es letztlich nur fuer den Geist geben
kann.
In seinem Aufsatz "Zwischen Autor und Text" betont Umberto Eco unter
anderem, dass der Autor zwar der Urheber des Textes ist, aber der Text ist
nach seiner Entstehung autonom, so dass es Unterschiede zwischen der
Absicht des Autors und der Textintention geben kann. Ueber sich selbst als
Autor sagt Eco: "Das Geschriebene hat sich von mir abgeloest und fuehrt ein
Eigenleben." (Eco 1992: 91). Mit dieser Behauptung verweisst der
Wissenschaftler auf den Aspekt der Offenheit, die das literarische Werk
hinsichtlich der Moeglichkeiten der Entwicklung seiner Handlung aufweisst.
Das trifft auch die Autorenposition von Max Frisch. Ein Buch ist fuer
ihn nur dann lesenswert, wenn es ausreichend Platz fuer den Reichtum der
eigenen Gedanken laeЯt. Dieser Gedanke ist verknuepft mit Frischs Abneigung
gegen die vollendeten Formen in der Literatur bzw. mit seinem eigenen Weg
der Skizzen, Tagebuecher, Berichte. In einer skizzenhaften, unvollendeten
Form eines literarischen Textes ist die Gefahr, daЯ der Autor dem Leser die
eigene Reproduktion durch allzu offensichtliche Vollendung vorenthaelt, und
ihm dadurch sein eigenes Bildnis aufzwingt, am geringsten. Die Skizze soll
nach Frisch nur die Richtung aufzeigen, nicht aber das Ende.
Die von Frisch im "Stiller" gewaehlte Form des Erzaehlens bewirkt,
dass der Leser einen sehr eingeschraenkten Blickwinkel hat. Daher muss er
sich automatisch mehr Gedanken machen, um von der ersten Seite des Buches
an den unbekannten Faden zu spinnen und Verbindungen zwischen den
Erlebnissen Stillers zu knuepfen. Die knappe Information, die der Leser
beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt Leerstellen, die er mit eigenen
Assoziationen, Theorien und Vermutungen fuellt, welche jedoch auch
zerstoert werden und zu neuen Ueberlegungen veranlassen. Durch die
gewaehlte Romanform wird der Leser aktiv, er muss sich permanent mit dem
wechselhaften Erzaehlvorgang auseinandersetzen. Die multiperspektivische
Darstellung der Personen und Charaktere fuehrt zu vielseitigen
Moeglichkeiten der Interpretation. Der Leser muss sich sein eigenes Bild
machen, in dem er sich kritisch und distanziert mit dem Erzaehler und
dessen Eigenarten auseinandersetzt.
Die Offenheit der Struktur des Romans macht den modernen Roman, so wie
ihn Max Frisch entstehen laesst, ueberhaupt moeglich. Das Losgeloestsein
von einer konventionellen Romanform laesst den Leser unvoreingenommen dem
Werk entgegentreten und in eine neuartige Moeglichkeit des
Rezeptionsvorgangs eintauchen.
Gerade durch diese Einstellung des Autors zu seinen Werken sind in
bedeutendem Ausmass einige Besonderheiten der Architektonik des Romans zu
erklaeren, solche wie Erzaehlhaltung, Aufbau und Tagebuchform,
Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit.
3.1 Aufbau des Romans
Die Form dieses Romans, seine Struktur und seine
Erzaehlperspektive sind haeufig bewundert worden, so von Friedrich
Duerrenmatt in seinem "Fragment einer Kritik" und von Walter Jens. Eine
genaue Untersuchung hat Karlheinz Braun vorgenommen.
Ich mцchte zunaechst den ausseren Aufbau des Romans betrachten.
Das Buch besteht aus zwei ungleichen Teilen, deren erster, weitaus
umfangreicherer, Stillers Aufzeichnungen im Gefangnis umfasst, waehrend
der zweite das Nachwort des Staatsanwalts enthaelt. Die Aufzeichnungen
im Gefangnis sind wiederum in sieben Hefte gegliedert, deren Umfang im
Durchschnitt etwa dem Nachwort des Staatsanwalts entspricht.
Die sieben Hefte des ersten Teils scheinen auf den ersten Blick
mit den verschiedensten Elementen gefuellt zu sein: Lange Rueckblenden
stehen neben Gegenwartserlebnissen im Gefaengnis und an den
Kautionsnachmittagen, die Knobel erzaehlten Abenteuer neben den
parabolischen Geschichten, Gespraeche mit Besuchern, Verteidiger und
Staatsanwalt neben Traeumen und Reflexionen des Tagebuchschreibers.
Eine genauere Analyse zeigt aber, wie kunstvoll diese scheinbar
zufaellig nebeneinander stehenden Teile zusammengefuegt, neben- und
gegeneinander montiert sind, so dass sie sich gegenseitig ergaenzen und
spiegeln.
Sie folgen aufeinander nach folgendem Prinzip: Die in Ichform
gehaltenen Erlebnisse des Haeftlings White wechseln alternierend mit
dem, was er nach Erzaehlungen anderer (Julikas, Rolfs und Sibylles) zu
protokollieren vorgibt. So fuellt die Darstellung der Ehe Stillers und
Julikas das zweite umfangreichste Heft der Aufzeichnungen, die Ehe
zwischen Rolf und Sibylle, in der Stiller ja als Sibylles Liebhaber
aufgetaucht ist, das vierte, die Liebesgeschichte zwischen Sibylle und
Stiller das sechste Heft.
Diese drei Hefte sind also fast ausschliesslich der Vergangenheit
gewidmet, sie enthalten die Stiller-Handlung. Hefte 1,3 und 5 dagegen
geben die Erlebnisse und Gedanken Whites im Gefangnis und in Amerika
wieder; diese Hefte stellen die White-Handlung dar. Die
Identitaetsspaltung zwischen White und Stiller findet in dieser
Struktur ihre genaue Entsprechung.
Eine Sonderstellung nimmt das siebente Heft ein: Der
Tagebuchschreiber weigert sich zwar noch immer Stiller zu sein,
berichtet aber andererseits zum ersten Male von Stillers Erlebnissen in
der Ichform. (vgl. Frisch 1992: 334) Am Ende des siebenten Buches sind
mit dem Urteilsspruch White und Stiller identisch geworden, beide
Handlungsstraenge sind ineinander geflossen. Es ist also auch formal
konsequent, dass hier die Tagebuchform aufhoert und ein neuer Erzaehler
zu Worte kommt.
3.2 Form und Funktion des Tagebuchs
Max Frisch bedient sich der Tagebuchform. Diese Form findet sich
haeufig bei Frisch, angefangen von den "Blaettern aus dem Brotsack" bis
hin zu "Montauk". Die beiden "Tagebuecher 1946-1949 und 1966-1971"
gehoeren zu seinem schriftstellerischen Werk nicht weniger als seine
Romane, doch ist die Art und Funktion dieser Form nicht ueberall die
gleiche.
Auf die Besonderheit und Funktion der Tagebuchform im Roman
"Stiller" moechte ich eingehen.
Vom Tagebuch kann man, genau genommen, nur in den Heften mit
ungerader Numerierung sprechen. Dort sind Erlebnisse und Gedanken des
Untersuchungshaeftlings festgehalten, er schreibt in der ersten Person
und meist in der Gegenwart. Die eingeflochtenen Geschichten und die
Knobel und dem Verteidiger erzaehlten Amerika-Erlebnisse ueberschreiten
eigentlich schon den Charakter des Tagebuchs; sie enthalten
Rueckwendungen, die dazu bestimmt sind, fuer Mr. White eine
Vergangenheit aufzuzeigen. Das Ich, das hier von sich spricht, ist nur
eine Fiktion; nur die in der dritten Person gehaltenen Protokolle
beschaeftigen sich mit dem 'eigentlichen' Ich, dem Titelhelden des
Buches.
Die Form des Tagebuchs ist also hier, wie Duerrenmatt
festgestellt hat, "die eines fingierten Tagebuchs einer fingierten
Personlichkeit, die damit die Behauptung aufrechterhalten will, sie sei
nicht eine andere" (Duerrenmatt 1971: 11).
Das trifft allerdings nur auf die ersten Hefte zu. Im Schreiben
veraendert sich der Tagebuchschreiber, er setzt sich mit der Rolle
auseinander, die er einst gespielt hat und die ihm seine Umgebung
wieder aufdraengen will. Kurz bevor er in Ichform von Stillers
Vergangenheit schreibt, definiert er die Funktion des Schreibers fuer
sich selbst folgendermassen:
"Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich
selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der
unbewussten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe,
liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefuehl, man gehe aus
dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es;
man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur haeuten" (Frisch
1992: 330).
Erst der Prozess der Selbstbesinnung durch das Tagebuch macht
Stiller reif fuer seine 'neue Haut', fuer die erste Stufe der
Selbstannahme. Aehnlich definiert Frisch im "Tagebuch 1945-1949" die
Funktion des Tagebuchs fuer den Schreibenden:
"Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich
zu seinem Denken, das bestenfalls fuer den Augenblick und fuer den Standort
stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, dass man
uebermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klueger sei. Man ist, was man
ist. Man haelt die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und
eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden
geschrieben. Schreiben heisst: sich selber lesen" (Frisch 1950: 22).
3.3 Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
Die besondere Art und Form des Tagebuchs im "Stiller" laesst sich
erst ganz verstehen, wenn die Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
genauer untersucht werden. Die Erzaehlsituation ist bestimmt durch
Stillers Aufenthalt im Gefaengnis.Die Isolation im
Untersuchungsgefaengnis zwingt Stiller zum Schreiben, andererseits ist
es aber die Konfrontation mit der Ehefrau, Feinden, dem Verteitiger und
Staatsanwalt, die auch fuer Wahrheitsermittlung notwendig ist. Diese
Situation ist besonders geeignet fuer die dem Ich-Roman eigene
Gewissenserforschung
(vgl. Stanzel 1964: 31), fuer die Darstellung des Identitaetsproblems.
Nach Stanzels Romantheorie ist "Stiller" am ehesten der Kategorie
der Ich- Erzaehlhaltung zuzuordnen. Bei dieser Erzaehlsituation
dominiert das berichtende Erzaehlen durch eine Erzaehlerfigur und die
Innensicht auf das Figurenbewusstsein. Unter der Kategorie "Person" ist
diese Erzaehlsituation immer mit einem Erzaehler in der Ich-Form
verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzaehler durchaus "Ich" sagen
kann, muss eine Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-
Erzaehlsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl den
Erzaehler als auch eine Handlungsfigur, der Erzaehler und die Figur
gehoeren also dem selben Seinsbereich an.
Die Ich-Erzaehlsituation vereint mehrere, scheinbar
widerspruechliche Aspekte: zum einen scheint die "epische Distanz"
vollstaendig aufgehoben zu sein, steht der Erzaehler doch als ein
Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist dieselbe Distanz
geradezu konstituierend fuer ihn, da er doch nur erzaehlen kann, was
zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzaehler eine
"gespaltene Persoenlichkeit", deren eine Seite als "erlebendes Ich",
die andere als "erzaehlendes Ich" bezeichnet wird. Diese Aufteilung
erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr authentisch und unmittelbar
ueber sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist diese Moeglichkeit zur
ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld - eben nur das
seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von aussen zu
beschreiben. Eine gewisse Naehe zur personalen Erzaehlsituation liegt
hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzaehlt er seine
Geschichte - haeufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus -
aus einem mehr oder weniger grossen zeitlichen Abstand. Das befaehigt
ihn, kommentierend und wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben
zurueckzublicken, was seine Perspektive wiederum an die des auktorialen
Erzaehlers annaehert.
Als Stiller das Gefangnis verlaesst, aendert sich mit der
Situation auch die Erzaehlhaltung, ein anderer uebernimmt die
Vermittlung der folgenden Ereignisse. Aber der erste Teil ist kein
reiner Ich-Roman. Es ist nicht so, wie es Walter Jens als eine
Moeglichkeit beschrieben hat, von der der Autor keinen Gebrauch gemacht
hat: "Anatol Stiller sitzt an seinem Zellen-Tisch, haelt Rueckschau und
konfrontiert die Begebenheiten von heute - Ausgang und
Gefaengnisbesuche - mit den Ereignissen von gestern" (Jens 1971: 17).
Der, der die Aufzeichnungen niederschreibt, behauptet ja gerade, nicht
Anatol Stiller zu sein. Wenn er ich schreibt, so meint er nicht
Stiller, sondern den Untersuchungsgefangenen White. Diesem hat der
Verteidiger ein Heft gegeben, in dem er sein Leben aufschreiben soll,
wohl um zu beweisen, dass ich eines habe [...], wie er ironisch
anmerkt. (Frisch 1992: 9)
An Stelle eines Lebensberichtes verfasst er jedoch ein Tagebuch,
das neben seinen Erlebnissen im Gefaengnis und einigen wenig
glaubhaften Geschichten aus Amerika nichts ueber sein frueheres Leben
enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. Das Tagebuch-Ich erweist
sich als ein Ich ohne Geschichte.
"Das Ich vermag sich offenbar allein als ein gegenwaertiges zu
dokumentieren" (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert - genau genommen
- erst seit zwei Jahren, seit dem Selbstmordversuch. Eine Geschichte
hat nur der verschollene Stiller aufzuweisen, ueber den aber gerade
nicht in der ersten, sondern stets in der dritten Person berichtet
wird, der also bis zum 7. Heft hin nie als Ich-Erzaehler in Erscheinung
tritt.
"Das Ich wird ein Objekt", wie Duerrenmatt sagt (Duerrenmatt
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