Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
Moskauer Staatliche Linquistische Universitaet
Lehrstuhl fuer Lexikologie
und Stilistik der deutschen Sprache
Diplomarbeit
Das Zusammenspiel der Realitaeten als eines der Hauptprinzipien des
Sujetaufbaus im Roman von Max Frisch "Stiller"
eingerichtet von Irina Sizikova
Moskau 2003
Inhaltsverzeichnis
Einleitung………………………………………………………………….3
Kapitel I. Der Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch. Problematik und
Strukturelle Besonderheiten des Romans……………………………………………6
1. Max Frisch, Biographie, kurzer Ueberblick……………………………………6
2. Der Roman "Stiller im Schaffen von Max Frisch. Identitaetsproblematik in
"Stiller"? "Homo Faber", "Mein Name sei Gantenbein"……………………..8
3. Strukturelle Besonerheiten des Romans "Stiller" und die Haltung des
Erzaehlers im Roman…………………………………………………………...11
1. Aufbau des Romans ……………………………………………………………..13
2. Form und Funktion des Tagebuchs………………………………………………14
3. Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung……………………………………………..16
Schlussfolgerung…………………………………………………………………….20
Kapitel II Zusammenspiel der Realitaeten………………………………………..22
1. Der Begriff der textwirklichkeit, Fiktionalitaet und Virtualitaet im
literarischen Text………………………………………………………………..22
2. Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in "Stiller"…………………………27
1. Erzaehlte Geschichten……………………………………………………………29
2. Parabolische Geschichten………………………………………………………...32
3. Traeume…………………………………………………………………………..36
3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman. Versuch einer
vergleichenden Analyse…………………………………………………………44
1. Die raeumliche Perspektive………………………………………………………46
2. Die zeitliche Perspektive…………………………………………………………48
3. Stilebene………………………………………………………………………….52
Schlussfolgerung………………………………………………………58
Literaturverzeichnis…………………………………………………..62
Einleitung
Das Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit besteht darin, das
Phaenomen des Zusammenspiels der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu
erlaeutern. Der Roman zeichnet sich durch komplizierten Aufbau, Fehlen der
einheitlichen Erzaehlperspektive aus, was die Rezeption des Werkes fuer den
Leser zu keiner einfachen Aufgabe macht.
Das veranlasste uns die Textwirklichkeit zu erforschen und uns mit dem
Zusammenspiel verschiedener Textschichten auseinanderzusetzen.
Die Textwirklichkeit des Romas stellt in sich keine Ganzheit dar. Sie
besteht aus vielen 'Kaestchen', die in die Hauptkonstruktion eingebaut
sind. Viele Sprachwissenschaftler setzten sich mit diesem Textphaenomen
auseinander (Padu?eva 1996; Lotman 1970; 1981; Hamburger 1977; 1979; Rudnev
1996 und andere).
Es handelt sich dabei um autonome Textteile wie Traum, erlebte Rede,
Luege, Erzaehlung in der Ezaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das
Textganze eingebettet sind. Im Rahmen der vorliegenden Forschung sind diese
Textfragmente in der Hinsicht von Interesse, dass ihre Wechselbeziehungen
und Gegenueberstellung zum wesentlichen Element des Zusammenspieles der
Realitaeten wird.
Das Objekt der Forschung ist der Roman von Max Frisch "Stiller". Als
Gegenstand der Forschung treten Mittel und Instrumente auf, die zu Signalen
der Umschaltung und des Spieles zwischen Fakt und Fiktion werden.
Das sind unter anderem:
( Traeume
( Die vom Protagonisten erzaehlten Geschichten
( Die zeitliche und raeumliche Perspektive im Roman
( Sprache und Stil
Die vorliegende Arbeit setzt sich dementsprechend zum Ziel moegliche
Wechselbeziehungen zwischen Realitaeten im Rahmen eines fiktionalen Textes
am Beispiel des Romans von Max Frisch "Stiller" zu erlaeutern.
Damit dieses Ziel erreicht wird, sind folgende Aufgaben im Rahmen
dieser Forschung zu loesen:
( Architektonik, Erzaehlhaltung, Mehrschichtigkeit des Textganzen,
somit Aufbau und Tagebuchform zu beschreiben
( Den Einfluss dieser Faktoren auf den Effekt des Zusammenspiels
der Textrealitaeten zu betrachten
(Einige Mechanismen des Zusammenspieles der Realitaeten zu
erforschen und konkrete Mittel auszusondern, die vom Autor eingesetzt
sind, um diesen Effekt zu schaffen.
Das Ziel und Aufgaben haben das Forschungsverfahren bestimmt. Das ist:
(Die Kontexteanalyse
(Analyse der mikro- und makrostilistischen Kategorien
(Vergleichende Analyse der Textfragmente
Die Struktur der Arbeit ist von gesetzten Zielen und Aufgaben
gepraegt. Die vorliegende Diplomarbeit besteht aus einer Einleitung, zwei
Kapiteln, einer Zusammenfassung und einer Bibliographie.
Die Einleitung ist vorwiegend dem Forschungsthema, den gesetzten
Zielen und Aufgaben gewidmet.
Das erste Kapitel handelt von der Position, die der Roman im Schaffen
von Max Frisch einnimmt, und vom Thema, das der Roman beinhaltet. Ausserdem
wird in diesem Kapitel der Begriff "Offenheit" des literarischen Textes
erlaeutert und es wird bewiesen, dass diese Erscheinung nachstehend den
Aufbau und die Form des Romans praegt. Von Bedeutung ist in diesem Teil
auch die Erklaerung des Begriffs "Erzaehlsituation".
Das zweite Kapitel ist dem Phaenomen "Zusammenspiel der Realitaeten"
gewidmet.
Im Laufe der Forschung wird aus zwei Sichten gezeigt, welche Mittel
und Instrumente zum Effekt des Zusammenspieles beibringen.
In diesem Kapitel werden solche Erscheinung wie "Text im Text" und
"virtuelle Textwirklichkeit" untersucht.
Das Miteinbeziehen von der freudschen Theorie der Traumdeutung und
Belletristik setzt sich zum Ziel in diesem Teil der Forschung die Analyse
durchsichtiger zu machen.
Im Rahmen des Forschungsthemas werden zwei im Roman dargestellte
"Welten" gegenuebergestellt und es wird bewiesen, wie die Opposition 'die
Schweiz- Amerika' zum Instrument des Zusammenspieles wird.
Dabei werden zeitliche und raeumliche Perspektive, Sprache und Stil
der Beschreibung dieser zwei Laender miteinander verglichen und einander
gegenuebergestellt.
In der Zusammenfassung werden Schlussfolgerungen gezogen.
I. Der Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch. Problematik und
strukturelleBesonderheiten des Romans
1. Max Frisch, Biographie. Kurzer Ueberblick
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zuerich als Sohn eines Architekten
geboren. Auf Draengen seines Vaters hin, begann er 1931 nach dem Abitur in
seiner Heimatstadt ein Studium der Germanistik. Aus finanziellen Gruenden
mußte er zwei Jahre spaeter, nach dem Tod seines Vaters das Studium
abbrechen und arbeitete als freier Journalist. Im Rahmen dieser Taetigkeit
fuehrten ihn Reisen in die Tschechoslowakei, nach Polen, Frankreich,
Bosnien, Griechenland und schließlich bis ans Schwarze Meer und nach
Konstantinopel. 1934 entsteht sein erster, von der Balkanreise inspirierter
Roman "Juerg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt". Nach seinen
ersten schriftstellerischen Versuchen geraet Frisch in Selbstzweifel, er
entschliesst sich mit Schreiben aufzuhoeren und verbrennt alle bis dahin
entstandenen Manuskripte.
1936 beginnt Frisch, nachdem er auf Draengen seiner Verlobten den
Journalismus aufgegeben hatte, ein Architekturstudium. Erst 1939 faengt der
nunmehrige Frisch wieder an zu schreiben. 1940 Veroeffentlichung von
"Blaetter aus dem Brotsack. Tagebuch eines Kanoniers" in dem er seine
Erfahrungen im Militaerdienst waehrend des Kriegsbeginns verarbeitet. 1942
erhaelt er das Architektendiplom (baut u.a. das Letzigraben Schwimmbad). Er
heiratet nun Constanze von Meyenburg und eroeffnet mit ihr zusammen ein
Architektenbuero in Zuerich. Die Ehe mit Constanze wird 1959 nach laengerer
Trennung wieder geschieden. Fortan arbeitet Frisch im Doppelberuf als
Architekt und Schriftsteller. In der Zeitperiode von 1946 bis 1951 verfasst
Frisch Dramen, die die aktuelle Nachkriegszeit teils thematisieren, teils
verfremden: "Nun singen sie wieder"(1946), "Die Chinesische Mauer"
(1947), "Graf Oedland" (1951).
Frisch unternimmt weiter inspirierende Reisen (z.B.Prag, Berlin,
spaeter auch die USA, Japan), trifft unter anderem Berthold Brecht, der ihn
sehr beeinflußte und Peter Suhrkamp (Verlag eroeffnete mit Frischs Werk
"Tagebuch 1946-1949"). Der endgueltige literarische Durchbruch gelingt ihm
1954 mit "Stiller". Das Buch wurde in etliche Fremdsprachen uebersetzt und
brachte dem Autor den "Wilhelm- Raabe- Preis" der Stadt Braunschweig 1955,
den "Schiller-Preis" der Schweizer Schillerstiftung 1955 sowie den "Welti-
Preis fuer das Drama" der Stadt Bern 1956.
Der nun unabhaengig gewordene Frisch wechselt haeufig den Wohnsitz,
z.B. Berlin, New York, Tessin, kommt aber immer wieder zurueck nach
Zuerich. Mit der Urauffuehrung des Dramas "Herr Biedermann und die
Brandstifter" im Zuericher Schauspielhaus erringt Frisch seinen ersten
Buehnenerfolg und wird kurz darauf mit dem Georg-Buechner-Preis
ausgezeichnet. In den 60er Jahren gewinnt Frisch wieder mehr Popularitaet
(nach der Entstehung seiner bedeutensten Werke), hauptsaechlich durch
Fernsehauftritte, zahlreiche Literaturpreise und seinem ersten großen
internationalen Buehnenerfolg "Andorra". Das Stueck behandelt das Thema
Rassismus unter der Problematik des Gebots "Du sollst Dir kein Bildnis
machen".
In den 70ern engagiert sich Frisch nun politisch, z.B. als Redner auf
einem Parteitag von der SPD, reist als Begleiter der Delegation des
damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach China, nimmt mit F.
Duerrenmatt am Friedenskongress teil. Gegenlaeufig dazu findet er
schriftstellerisch nicht mehr so großen Anklang. Er stirbt im Alter von 80
Jahren am 5.April 1991 in Zuerich, wo er auch geboren ist. Frisch erhielt
ungewoehnlich viele Preise z.B. Friedenspreis des deutschen Buchhandels,
Schiller Preis von Baden Wuertenberg, Preis der jungen Generation fuer
"Andorra" und andere mehr.
2. Der Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch.
Identitaetsproblematik in "Stiller", "Homo faber", "Mein Name sei
Gantenbein"
Die Helden in Max Frischs Werken leiden permanent am eigenen Ich. Max
Frisch selbst bezeichnete die zentrale Stellung der Identitaetsfrage und
die damit zusammenhaengende Rollenhaftigkeit des Daseins, den Ich-Verlust
und die Selbstwahl als sein ,"Warenzeichen". So will der Bildhauer Anatol
Stiller, die Titelgestalt des ersten der bedeutenden Romane (1954), ein
neuer Mensch mit neuer Identitaet werden und so frueherem Versagen als
Kaempfer auf der Seite der spanischen Republik, als Ehemann und als
Kuenstler entfliehen.
Im zweiten der namhaften Romane, "Homo Faber" (1957), geht Frisch von
entgegengesetzter Position ans Werk. Walter Faber, Techniker und Ingenieur,
moechte an seinem technisierten Weltbild, in dem Schicksal und Gefuehle
keinen Raum finden, festhalten. Aber er verstrickt sich immer mehr in
unwahrscheinliche Zufaelle und irrationale Liebesempfindungen. Auf der
Suche nach Erlebnissen, die ihn in seiner Position staerken koennten
(glaubt selbst nicht mehr an Rollenhaftigkeit), holt ihn schließlich seine
eigene Vergangenheit ein: Auf den Spuren seiner Geliebten und eigenen
Tochter, Sabeth, begegnet er der Welt, die er verlachte und kehrt wie
Stiller zum Ursprung zurueck: auch er ist am Ende ein Moerder, auch er
allein. Bereits auf den ersten Seiten wird angesprochen: "Ich glaube nicht
an Fuegung und Schicksal. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu
sehen, wie sie sind. Ich weigere mich Angst zu haben." (Faber spielt die
Rolle des Technikers konsequent aus).
In "Mein Name sei Gantenbein" (1964) steht die Verwandlung des Lebens
in Geschichten im Mittelpunkt. Zu Beginn des Romans montiert der Ich-
Erzaehler die Figur aus dem Koerper eines Mannes aus Paris und dem Kopf
eines Amerikaners zusammen, sie erhaelt den Namen Gantenbein. Mit der immer
wiederkehrenden Formel "Ich stelle mir vor" (sowie auch Stiller mit "Ich
erzaehle ihm eine Geschichte") probiert Gantenbein nun unablaessig
Geschichten wie Kleider aus, wobei immer wieder nur eine vorgestellte Welt
zugelassen wird. Der Titelfigur bleibt kaum mehr eigene Individualitaet,
deshalb bleibt ihr nur das Spiel mit Existenzen, dem Ausprobieren seiner
Selbst.
"Stiller" entstand im Jahre 1953 und wurde ein Jahr spaeter
veroeffentlicht. Als der Roman erschien, hatte Max Frisch vor allem als
Theaterautor einen Namen. In kurzer Zeit erreichte der Roman als erstes
Buch des Suhrkamp-Verlages eine Millionenauflage.
In einem Gespraech mit Horst Bienek sagte Frisch zur Entstehung:
" Ich war ein Jahr in Amerika, und da ich ein Stipendium hatte, meinte
ich fleissig sein zu muessen. Ich schrieb sechshundert Seiten, die
misslangen. Eines Tages, zuhause, tippte ich wie oefters, wenn ich mich
langweilte und mich unterhalten muss, ein paar Seiten. Ziellos, frei von
dem beklemmenden Gefuehl, einen Einfall zu haben. Nichts geht leichter
zugrunde, als ein Einfall, der sich selbst erkennt! Das blieben die ersten
Seiten vom "Stiller", unveraendert; das Material, das ich zum Weitertippen
brauchte, stahl ich aus den sechshundert misslungenen Seiten
ruecksichtslos, so dass das Buch nach dreiviertel Jahren fertig war. "
(Bienek 1969:21)
"Ich bin nicht Stiller" lautet die unerhoerte Aeußerung des Helden mit
der der Roman einsetzt. Um die Schatten der eigenen Nichtigkeit
loszuwerden, unternimmt er den Versuch nach langer Abwesenheit unerkannt
und verwandelt in die Heimat zurueckzukehren, doch dies schlaegt fehl.
Spaeter kommt der Symbolgehalt des Namens Stiller zum Ausdruck. Auf einem
Landgut fristet Stiller sein Dasein: verstummt, zurueckgezogen, allein.
Der Roman ist in zwei Hauptteile untergegliedert, von denen der erste
Teil die "Aufzeichnungen im Gefaengnis" und die zweite Teil das
"Schlusswort des Staatsanwalts" beinhaltet.
Die Handlung findet im architektonischen Aufbau des Romans ihre
Entsprechung. Die zwei Handlungsstraenge ('White-und Stillerhandlung')
fuehren am Ende zusammen, denn die Doppelidentitaet Stiller/ White wird zu
einer Einheit. Noch weigert sich White Stiller zu sein:
"[…]; abermals vergleicht er Zahn um Zahn, wobei sich zeigt, dass
Stiller, der verschollene Kunde seines verstrorbenen Onkels, beispielsweise
ueber einen tadellosen Achter-oben-rechts verfuegt haben muss; bei mir ist
es eine Luecke." (Frisch 1992: 318)
Ñòðàíèöû: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7
|